Transkulturelle Kompetenz – im klinischen Alltag nutzen

Dr. Solmaz Golsabahi-Broclawski

von Dr.med.univ. Solmaz Golsabahi-Broclawski.

Der Anteil an Menschen mit Migrationsvorgeschichte beziehungsweise der Ausländeranteil in der Bevölkerung nehmen sukzessive zu. Dies stellt auch das Gesundheitssystem und insbesondere die im Gesundheitssystem Tätigen vor besondere Herausforderungen. So variieren beispielsweise Morbidität und Mortalität, Gesundheitschancen und Krankheitsrisiken sowie das Gesundheits- und Krankheitsverhalten kulturspezifisch.

Die Interaktion von LeistungserbringerInnen und PatientInnen beziehungsweise ihren Angehörigen ist durch unterschiedliche Normen, Werte und alltagsweltliche Vorstellungen kulturell geprägt. So können etwa das Verständnis von Gesundheit, Krankheit und Tod sowie die Anforderungen und Erwartungen an die Versorgung interkulturell unterschiedlich sein. Kulturelle und sprachliche Barrieren sowie kulturbezogene Stereotypen können eine zielorientierte Behandlung erschweren. Dies kann gleichermaßen zu Missverständnissen in der Kommunikation und psychosozialen Betreuung von MigrantInnen führen, das Gleiche gilt für Probleme in der Diagnostik, Therapie und insbesondere der Pflege. Mögliche Folgen sind eine Reduktion von Behandlungsqualität, Patientensicherheit und Patientenzufriedenheit auf der einen Seite, aber auch Irritationen, Hilf- und Verständnislosigkeit bei den LeistungserbringerInnen auf der anderen Seite.

Transkulturelle Kompetenz ist daher im klinischen Alltag zunehmend wichtig, um die PatientInnen ganzheitlich zu erfassen. Dieses „Nicht-Verstehen-Können” beziehungsweise „Missverstehen“ ist nicht selten ein Stressfaktor für den klinischen Alltag. Ein Stressfaktor deshalb, weil die gewohnten Techniken und Verfahren der LeistungserbringerInnen nicht greifen oder gar ihr Ziel verfehlen und somit zu Missverständnissen und Kränkungen auf beiden Seiten führen.

Vor diesem Hintergrund haben sich die AutorInnen (Frau Dr. Golsabahi-Broclawski, Herr Broclawski, Herr Dr. Anton Gillesse, Frau Borg) veranlasst gesehen, ein Fortbildungscurriculum zum Thema „Transkulturelle Medizin – Kulturfallen im klinischen Alltag“ zu entwickeln.

Das Curriculum ist didaktisch auf den Grundlagen der medizinischen Curricula aufgebaut und entspricht auch den Anforderungen der KostenträgerInnen in der Bundesrepublik Deutschland.

Es bietet einen Leitfaden für den klinischen Alltag, fördert die Verknüpfung der Erfahrung und Kenntnis vieler in der individuellen Behandlung der PatientInnen mit Zuwanderungsgeschichte therapeutisch und diagnostisch verbundener Berufsgruppen. Das Ziel ist die Förderung der interprofessionellen Behandlung und Expertise und das Aufzeigen von Möglichkeiten und Wege zur Reduktion von Unter-, Fehl- und Überversorgung auf. Die einzelnen Bausteine ermöglichen Ansatzpunkte und schaffen Wege zu einer optimierten Patientenversorgung.

Das Curriculum ist in 6 Module gegliedert und soll die Kompetenzen der betroffenen Berufsgruppen im Bereich der transkulturellen Medizin stärken. Die Module sind interdisziplinär aufgegliedert in somatische und psychiatrische Gebiete:

Modul 1: Einführung in die transkulturelle Medizin
Das Modul beschäftigt sich mit einer Einführung in der Thematik der Migration, juristische Rahmenbedingungen für MigrantInnen und Asylsuchende. Begriffsdefinitionen der Diversity, Umgang mit Rassismus und auch Stressfaktoren und Ressourcen der Migration werden reflektiert und in Bezug auf den klinischen Alltag erarbeitet.

Modul 2: Kulturspezifische Besonderheiten der Diagnostik unter Berücksichtigung kulturspezifischer Untersuchungsmethoden
In diesem Modul werden diagnostische und therapeutische Instrumente unter Berücksichtigung der transkulturellen Besonderheiten reflektiert. Es werden die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD), der Operation- und Prozedurenschlüssel (OPS) und die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) als diagnostische Rahmenbedingungen neu reflektiert wie auch die Besonderheiten der Gesprächsführung in der Kommunikation mit PatientInnen mit Migrationsgeschichte.

Modul 3: Innere Medizin und Chirurgie
Die Schwerpunkte der Inneren Medizin und Chirurgie sind insbesondere aus systemischer Sicht von Bedeutung. Nicht nur die einzelnen Besonderheiten und Diagnosen werden erarbeitet, sondern deren Bedeutung und Auffassung in der Herkunftskultur. Auch Krankheiten, welche im Herkunftsländer endemischer sind wie Sichelzellanämie, Parasiten und auch seltenere Tumore werden thematisiert.

Modul 4: Neurologie und Psychiatrie
Die Schwerpunkte der Neurologie und Psychiatrie sind insbesondere aus systemischer Sicht von Bedeutung. Nicht nur die einzelnen Besonderheiten und Diagnosen werden erarbeitet, sondern die Stigmatisierung und der aktuelle Stand der Medizin in den Herkunftsändern werden erörtert. Auch Themen wie seltene Erkrankungen des Zentralen Nervensystems und auch Ursachen für affektive Störungen aus dem Kreise der parasitären und sonstigen endemischen genetischen Erkrankungen werden erarbeitet.

Modul 5: Pädiatrie und Frauenheilkunde
Die Schwerpunkte der Pädiatrie und Frauenheilkunde sind insbesondere aus systemischer Sicht von Bedeutung. Nicht nur die einzelnen Besonderheiten und Diagnosen zum Stillen, frühkindliche Entwicklungsstörungen, zu Normwerten der kindlichen Entwicklung, Menarche und Pubertät, sexuelle Entwicklungen und Gebote, Endometriose und Schwangerschaften, Mamma- Karzinome u.a. werden erarbeitet. Auch Themen wie Beschneidung und Verständnis von Krankheit und Gesundheit aus kulturellen und religiösen Aspekten werden reflektiert, genauso wie die Themen der palliativen Medizin.

Modul 6: Psychosomatik
Die Schwerpunkte der Psychosomatik sind insbesondere aus systemischer Sicht von Bedeutung. Nicht nur die einzelnen Besonderheiten und Diagnosen werden besprochen, sondern auch die Begrifflichkeit der Psychosomatik in Bezug auf Herkunftssprachen wird thematisiert. Die linguistischen Grenzen der Psychosomatik in den Herkunftssprachen stehen genauso im Mittelpunkt des Moduls wie die unterschiedlichen religiösen und Wertevorstellungen im Zusammenhang mit der Entstehung von Krankheiten.

 

Das Curriculum zielt auf einen positiven Beziehungsaufbau und auf interkulturell diagnostische und therapeutische Settings, auf die Reflexion des eigenen kulturellen Hintergrundes sowie die Beschäftigung mit juristischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen.

Anhand von Fallbespielen werden die TeilnehmerInnen die Möglichkeit haben, sich selbst aktiv in der Rolle des transkulturell Kompetenten professionell wahrzunehmen.

ÄrztInnen unter transkulturellem Aspekt fit zu machen für die Diagnostik und Therapie somatischer und psychiatrischer Erkrankungen und so das Management der Versorgung von MigrantInnen zu verbessern, bedeutet einen hohen Anspruch.

Das Curriculum sieht dazu 50 Unterrichtseinheiten vor, von denen 13 UE als e-Learning-Maßnahme gestaltet sind (freie Zeiteinteilung). Die Präsenzzeit mit 37 UE beträgt 4 Wochentage im Rahmen der Fortbildungswoche der Ärztekammer Westfalen-Lippe auf der Insel Borkum.

Allgemeine Informationen
Veranstaltungstermin: 27. bis 31. Mai 2018

Veranstaltungsort: 
26757 Borkum
Deutschland

Mehr Informationen zu dem Programm und zur Anmeldung zu der Veranstaltung finden Sie hier.


Veröffentlicht in GI-Mail 11/2017 (Deutsche Ausgabe). Abonnieren Sie GI-Mail hier.

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